Warten oder nicht warten?

Wartezeitregelung in Bayern

Sicher hat es der eine oder andere schon mitbekommen: Seit 1. August entfällt in der Region Bayern die Wartezeit für Züge des Nahverkehrs der Deutschen Bahn. Das bedeutet, dass grundsätzlich alle Züge zur fahrplanmäßigen Zeit abfahren und nicht auf verspätete Anschlusszüge warten. Natürlich gibt es hier Ausnahmen: Züge am späten Abend und Schülerzüge mit knappen Übergängen sind ausgenommen, diese Züge warten in einem festgelegten Rahmen. Sind mehr als 20 Umsteiger betroffen, kann das Zugpersonal bei der Transportleitung den Anschluss beantragen. Dort wird dann geprüft, ob dem Antrag stattgegeben werden kann.

Hintergrund dieser Regelung ist die gesunkene Pünktlichkeit, die nach Angaben der DB zurzeit bei nur 91 Prozent liegt. Die Deutsche Bahn läuft damit Gefahr, die mit dem Freistaat Bayern vereinbarten Pünktlichkeitswerte zu verletzen und Pönale zu zahlen.

Ob die Regelung für den Fahrgast unterm Strich mehr Vor- als Nachteile bringt, wird erst die Erfahrung der nächsten Wochen und Monate zeigen. Sicher macht es keinen Sinn, auf drei Fahrgäste aus dem verspäteten ICE zu warten und dadurch 60 Pendlern eine Stunde Wartezeit auf den nächsten Anschluss zu bescheren. Umgekehrt ist es auch kaum vermittelbar, dass Anschlusszüge, deren Fahrgäste oft zu 70 Prozent und mehr aus Umsteigern bestehen, zwar "gnadenlos" pünktlich aber ohne Fahrgäste abfahren.

Ein paar Gedanken zur Versachlichung der Diskussion: Störungen im Betriebsablauf wird es immer geben. Dabei die Pünktlichkeit des Zugverkehrs aufrechtzuerhalten ist eine Optimierungsaufgabe. Worauf kommt es dabei eigentlich an? Die Reisenden wollen möglichst in der dem Fahrplan entsprechenden Reisezeit ihr Ziel erreichen. Die Pünktlichkeit einzelner Züge ist dafür ein Indikator, für das eigentliche Ziel jedoch nur von zweitrangiger Bedeutung. Die derzeitige Regelung, nur auf die Pünktlichkeit der Züge zu schauen, birgt eine große Versuchung für das Eisenbahnunternehmen: In der Statistik erscheint nur ein mit 10 Minuten verspäteter Zug, weil alle Anschlusszüge pünktlich abfahren. Dennoch erreicht ein Grossteil der Bahnkunden ihr Ziel mit 60 oder mehr Minuten Verspätung. Das kann es nicht sein.

Die richtige Beurteilungsgröße für eine Wartezeitvorschrift wäre demnach nicht die Summe der Verspätungsminuten der Züge, sondern die Verspätungsminuten der Fahrgäste. Die Frage, ob und wie lange gewartet wird, um möglichst wenig Fahrgast-Verspätungsminuten zu erreichen ist aber sehr komplex: Zunächst müssen die betrieblichen Folgen abgeschätzt werden, beispielsweise die Übertragung der Verspätung auf die Gegenrichtung durch Zugkreuzungen auf eingleisigen Strecken. Weiter muss eine Datenbasis vorhanden sein, die Umsteigebeziehungen zwischen den Zügen mit Fahrgastzahlen hinterlegt. Betriebliche Daten und Fahrgastbeziehungen stellen die Eingangsgrößen für ein Optimierungsprogramm dar. Im Ergebnis würden dann je nach Tageszeit und Hauptverkehrsrichtung unterschiedliche Lösungen gefunden werden: Auf typischen Pendlerstrecken würde man in der Schwachlastrichtung dann eher einen Anschlussverlust in Kauf nehmen als bei den vollen Pendlerzügen in der Hauptlastrichtung. Doch die Aufhebung der Wartezeitvorschrift zeigt: Eine solches Optimierungsprogramm existiert derzeit nicht.

Die von der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG) geforderte Pünktlichkeitsgarantie ist zwar eine Beurteilungsgröße, die einfach zu messen ist. Sie verleitet aber dazu, das eigentliche Ziel, die kurze Reisezeit für die Mehrzahl der Fahrgäste, aus dem Auge zu verlieren. Letztlich bleibt die auch die Änderung der Wartezeitvorschrift nur ein Herumdoktern an Symptomen. Voraussetzung für die Zuverlässigkeit des Zugbetriebs und die Bewältigung von Betriebsstörungen ist eine ordentliche und ausreichend dimensionierte Infrastruktur. Doch hier sieht es bitter aus: Langsamfahrstellen zehren die Fahrzeitreserven auf, Zugkreuzungen können nicht verlegt werden, weil Kreuzungsgleise fehlen oder sogar zurückgebaut wurden. Der zweigleisige Ausbau der Strecken nach Mühldorf und Garmisch wird nicht in Angriff genommen. Als der Bahnhof Diemendorf vor knapp zehn Jahren zurückgebaut wurde, hatte PRO BAHN gewarnt. DB Netz hatte uns damals ein Ende der Verspätungen angekündigt! Bis heute ist die fehlende Kreuzungsmöglichkeit in Diemendorf ein Verspätungsmotor auf der eingleisigen Strecke zwischen Tutzing und Weilheim. Aus kaufmännischer Sicht des Infrastrukturbetreibers mag eine überlastete Infrastruktur die wirtschaftlichste Lösung sein. Diese Sicht kann sich erst ändern, wenn beispielsweise das Eisenbahnbetriebsunternehmen DB Regio die Strafzahlungen an DB Netz durchreichen könnte. Doch die Pönalen für Verspätungen bleiben an der DB Regio AG hängen und so rentiert sich für die DB Netz AG weiterhin jeder Rückbau von Gleisanlagen. Damit sind wir wieder einmal am Grundproblem einer verkorksten Bahnreform angelangt.

Das Verspätungsproblem wird sich erst grundlegend lösen, wenn auch die Politik wieder die Verantwortung für die Verkehrswege entdeckt und unseren Bahnstrecken auf einen zeitgemäßen Standard ausgebaut werden.