Südhessen, den 11.8.2020
PRO BAHN unterwegs mit MdL Christiane Böhm und MdB Jörg Cezanne, die sich im Rahmen ihrer Sommertour für die Entwicklungspotenziale im südhessischen ÖPNV interessierten. Auf einer Rundfahrt mit Bus und Bahn durch den Kreis Bergstraße wurden notwendige Verbesserungen des Angebots, Tarifprobleme, Nahverkehrsmanagement und vieles mehr beleuchtet.
Am Bahnhof Heppenheim neben der Station des Fahrradvermietsystems „VRNnextbike“ startete die Sommertour der Landtagsabgeordneten Christiane Böhm und des Bundestagsabgeordneten Jörg Cezanne (beide DIE LINKE) zusammen mit dem Regionalverband Starkenburg des Fahrgastverbandes PRO BAHN. Dessen Vorsitzender, Peter Castellanos, begrüßte dort die Teilnehmer der Sommertour und informierte über das 2018 eingeführte Mobilitätsangebot, das sehr zu begrüßen sei – besonders, da solche Angebote außerhalb von Großstädten nicht selbstverständlich seien.
Allein „Mehr Einheitlichkeit“ lautete der einhellige Wunsch der Gruppe, wenn es darum geht solche Angebote nicht nur am eigenen Wohnort, sondern auch in anderen Teilen der Region nutzen zu können. Dort agieren zum Teil andere Anbieter. „Wenn drei verschiedene Abos für drei verschiedene Mobilitätsanbieter organisieren müssen, läuft etwas schief. Erwartet wird ein Abo für die gesamte Reisekette“, ist Castellanos überzeugt. Etwas hoch gesteckt erscheint dieses Ziel, wenn man berücksichtige, dass es selbst innerhalb des ÖPNV „nicht immer einheitlich“ zugehe – etwa mit Blick auf die fehlende Gültigkeit von Fahrkarten des RMV-VRN-Übergangstarifs in fast allen Ruftaxi-Linien.
Um Punkt 11.32 Uhr bewegte sich die Gruppe mit dem 667er Bus gen Odenwald nach Fürth. Seit hier das Fahrtenangebot auf 2 Fahrten pro Stunde ausgeweitet wurde, sei die Nachfrage deutlich gestiegen. Ein klarer Beweis dafür, dass mit der Ausweitung des Angebots, auch die Akzeptanz des ÖPNV deutlich wachse. Gerade vor diesem Hintergrund müssten Netzlücken im Busverkehr ernst genommen und aktiv angepackt werden. Diese seien oft verantwortlich für unzumutbare Reisezeiten und behindern gewillte Menschen zum Umstieg in den ÖPNV.
Als Ursache werden fehlende Kooperationen identifiziert – insbesondere mit Blick auf Verbindungen, die über Kreisgrenzen verlaufen, wie z.B. zwischen der Bergsträßer Kommune Lautertal und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg. Laut PRO BAHN herrsche in vielen Verwaltungen leider noch ein veraltetes Planungsverständnis, demzufolge sich die Angebotsentwicklung nur auf die eigenen Zuständigkeitsgrenzen konzentriere. Dies bestätigt MdL Christiane Böhm aus eigener Erfahrung: Es gebe zu wenige Initiativen und es fühle sich häufig niemand zuständig, sodass die ÖPNV-Nutzer auf der Strecke bleiben. Umso erfreulicher, wenn es dann doch klappt: Zwischen dem Kreis Bergstraße und dem Odenwaldkreis konnten auf Initiative von PRO BAHN wichtige Besserungen erzielt werden. Neben einer Durchbindung der Busverbindung Bensheim – Reichelsheim bis Erbach am Wochenende inklusive Fahrradmitnahme, wurden zwischen Grasellenbach und der Kreisstadt des Odenwaldkreises neue tägliche Fahrtmöglichkeiten geschaffen – auch wenn nach Auffassung des Fahrgastverbandes noch Nachsteuerungsbedarf im Detail bestehe.
Von verbesserungswürdigen Kooperationen berichtete auch der Vorsitzende des DADINA-Fahrgastbeirats und PRO BAHN-Referent im Beteiligungsforum zur Neubaustrecke Rhein/Main – Rhein/Neckar, Bernd Rohrmann. Die zuständigen Stellen hätten häufig keine Vorstellung davon, wann ein Anliegen des Fahrgastbeirats wirklich erledigt oder weiterhin zu bearbeiten sei. Diese Erfahrung bestätigt auch Peter Castellanos mit Blick auf den Fahrgastbeirat des Kreises Bergstraße.
MdB Jörg Cezanne lobte das Engagement der ehrenamtlichen Beiräte – auch mit Blick auf die Tatsache, dass die Daseinsvorsorge mit einem menschenwürdigen ÖPNV-Angebot eine größere Aufmerksamkeit benötige: „Bei genauer Betrachtung sind selbst zehn Fahrten am Tag schon nicht mehr ausreichend“. Nach diesem Maßstab müsse der Kreis Bergstraße mit aktuell nur 15 Fahrtenpaaren pro Woche deutlich nacharbeiten, ergänzte Castellanos. Seiner Auffassung nach müsse ein Mobilitätsgrundnetz und eine verpflichtende Mindestbedienung nach Schweizer Vorbild gesetzlich verankert werden, um der öffentlichen Mobilität einen höheren Stellenwert einzuräumen.
Zum Thema Tarifgestaltung beklagte Rohrmann die besonders für orts- und tarifunkundige Tagestouristen und Gäste der Region unübersichtliche Tarifstruktur im Grenzraum RMV-VRN, bei der sogar viele Mitarbeiter der Verkehrsunternehmen kapitulieren würden. Ein Gästeticket nach dem Vorbild der KONUS-Gästekarte oder des Bayerwald-Tickets könne hier Besserung leisten.
Für Einheimische wichtig sei nach Auffassung von PRO BAHN mindestens eine räumliche Ausweitung des Übergangstarifs, um die Jahresmobilität der zahlreichen Inhaber von Verbundnetzkarten endlich preiswerter zu gestalten. Digitale Angebote könnten dies flankieren, damit die Kunden die Verbundgrenze nicht spüren. Bisweilen sei es nicht einmal möglich eine Fahrkarte von Heppenheim nach Darmstadt online zu lösen. Um diese und weitere Tarif-Themen stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, erarbeite PRO BAHN in Kooperation mit der OREG mbH und IGO e.V. derzeit ein Gutachten.
Weitere Möglichkeiten zugunsten einer Tarifvereinfachung sieht MdL Christiane Böhm in der Ausweitung der derzeit nur für Schüler, Senioren und Landesbedienstete erhältlichen Hessen-Tickets. „Solche Angebote machen die Erfahrung mit dem ÖPNV unbeschwerter. Gleichzeitig müssen sie durch Kooperationen zwischen den Verbünden über die Landesgrenze hinweg erweitert werden“. Perspektivisch könne auch ein fahrscheinloser ÖPNV einen Beitrag zur einfacheren Nutzung des ÖPNV leisten.
Nach dem Umstieg in die Weschnitztalbahn in Fürth stand die Weiterentwicklung der beiden Nebenbahnen im Kreis Bergstraße im Fokus. Entlang der Strecke deutlich zu hören sind die unbeschrankten Bahnübergänge, an denen der Triebfahrzeugführer aus Sicherheitsgründen ein Pfeifsignal abgeben müssen. Diese Schwachpunkte, die die Streckengeschwindigkeit einschränken und damit innovative Fahrplankonzepte verhindern, müssten dringend beseitigt werden – z.B. durch Schrankenanlagen, so PRO BAHN. Ebenso seien zusätzliche Bahnhaltepunkte, etwa in Hornbach oder Groß-Breitenbach sowie eine Reaktivierung der Überwaldbahn wichtig, um die kleinräumige Erschließung zu verbessern. Der ländliche Raum dürfe nicht vom Leben in den Ballungsräumen abgekoppelt werden. Von Wald-Michelbach und Fürth könnten schnelle Direktzüge mindestens bis Mannheim angeboten werden, um den Staus im Saukopftunnel und im Zulauf auf Mannheim eine attraktive Alternative entgegenzusetzen.
Einen großen Nachholbedarf sieht PRO BAHN auch im Einsatz alternativer Antriebe. „Aktuelle Studien zeigen, dass eine so dicht bediente Strecke, wie die Weschnitztalbahn, schon aus wirtschaftlichen Gründen elektrifiziert und S-Bahn-gerecht ausgebaut werden muss“, ist Castellanos überzeugt. „Hier wünschen wir uns ein deutlich stärkeres Engagement des Kreises als zuständigem Aufgabenträger für den Schienenpersonennahverkehr“. Die kürzlich reformierten Förderstrukturen auf Bundesebene böten hier neue Möglichkeiten und größere Spielräume, als früher. Diese müssten nun proaktiv genutzt werden.
Trotz der neuen Fördermöglichkeiten sei weiterhin besonders die Erweiterung der Kapazität von regionalen Schienenstrecken noch unnötig kompliziert und verhindere dringend notwendige Verbesserungen für ÖPNV-Kunden. Am Beispiel der Odenwaldbahn (Eberbach – Erbach – Darmstadt / Frankfurt) werde sehr deutlich, wie schwierig es ist, eine Förderung für Bahnsteigverlängerungen oder einen zumindest teilweise zweigleisigen Ausbau zu erhalten – und das obwohl die überlasteten Züge zur Hauptverkehrszeit den dringenden Handlungsbedarf regelrecht herbeiflehen. „Auf Bundesebene müssen fundamentale Teile der Bewertungsmethodik zur Nutzen-Kosten-Untersuchung geändert werden. Das Land Hessen trägt die Verantwortung dafür eigene niedrigschwellige Investitionsprogramme für solche Projekte und die Reaktivierung von stillgelegten Schienenstrecken aufzulegen, wenn eine Förderung durch den Bund nicht möglich ist“, richtet Castellanos seinen Apell an die Landespolitik, die Christiane Böhm gerne aufgenommen hat.
Einigkeit bei allen Teilnehmern der Exkursion herrscht in der Unzufriedenheit mit der aktuellen Förderpolitik des Landes, die die Landesentwicklung zu stark auf den sogenannten „Frankfurter Bogen“ – ein Gebiet, dass innerhalb einer festgelegten Zeit vom Frankfurter Hauptbahnhof mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist – konzentriere und die Randgebiete vernachlässige.
Am Beispiel der Nibelungenbahn von Bensheim nach Worms – der letzten Station auf der Sommertour – erläutert Castellanos, dass der ÖPNV in den letzten 100 Jahren vielerorts mit der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung nicht mitgewachsen sei. Stattdessen sei ein Schwerpunkt auf den Straßenbau gelegt worden. Neben einem zusätzlichen Bahnhalt neben Dentsply Sirona in Bensheim und im Bürstädter Osten sei eine Verdichtung des gegenwärtigen 60-Minuten-Taktes mit einzelnen Verstärkerleistungen dringend nötig. „Der vierspurige Ausbau der B47 zeigt mehr als deutlich, dass es hier eine hohe Nachfrage gibt. Diese gilt es für den ÖPNV zu erschließen“.
Allein schon auf Grundlage der bisher besprochenen Themen und Entwicklungsdefizite im Kreis Bergstraße, werde nach Auffassung von PRO BAHN mehr als deutlich, dass das lokale Nahverkehrsmanagement besser funktionieren muss. Ob hierzu eine eigene lokale Nahverkehrsorganisation (LNO) etabliert werden sollte, um die Interessen des Kreises Bergstraße und seiner ÖPNV-Kunden gegenüber Verkehrsverbünden, benachbarten Aufgabenträgern und dem Land besser zu vertreten, oder ob innerhalb der bestehenden Zuständigkeiten wirksame strukturelle Änderungen realisierbar sind, müsse die Kreispolitik entscheiden.
Aktuell ist der VRN die LNO für den Kreis Bergstraße und die bisherigen Erfahrungen von PRO BAHN tendieren deutlich zugunsten der ersten Option. Dass das ÖPNV-Management verbessert werden müsse, würden neben den deutlich progressiveren Entwicklungen in den hessischen Nachbarkreisen (die über eigene LNOs verfügen) auch die fachlich teilweise sehr bedenklichen Fachdiskussionen im Fahrgastbeirat und der Lokalpresse deutlich offenbaren, findet PRO BAHN.
Des Weiteren erhofft sich der Fahrgastverband durch eine stärkere lokale Fokussierung und Nähe zum „Ort des Geschehens“ eine stärkere Kundenorientierung bei lokalen Themen und mehr Transparenz in der laufenden Geschäftstätigkeit. Oft würden Erfolge gefeiert, ohne diese z.B. anhand von Fahrgastzahlen, lokalen Modal Split-Werten oder anderen wissenschaftlichen Kenngrößen nachvollziehbar belegen zu können.
Angesichts der klimapolitisch dringend notwendigen Verkehrsverlagerung vom motorisierten Individualverkehr zum öffentlichen Verkehr, erkundigt sich MdB Jörg Cezanne zum Abschluss der Sommertour darüber, ob das Ziel die Fahrgastzahlen zu verdoppeln überhaupt realistisch erreichbar ist?
PRO BAHN zeigt sich in dieser Frage zuversichtlich: Denn insbesondere außerhalb der Ballungsräume, wo der ÖPNV – anders als in den Großstädten – stark unterentwickelt sei und folglich noch keine hohen Nutzeranteile aufweise, könnten noch große Wachstumspotenziale gehoben werden. Zur Wahrheit gehöre aber, dass auch in Großstädten über eine neue Aufteilung des vorhandenen Verkehrsraums nachgedacht werden müsse, um den Umweltverbund durch neue bzw. anders verteilte Infrastruktur wirksam zu stärken.