PRO BAHN Zeitung 80

Verspätungsschäden und ihr Ersatz nach Europäischem Recht: Ende eines Trauerspiels ?

Von Ansgar Staudinger (aus PRO BAHN Zeitung 80; 4/1999)

Die DB AG darf sich bei fest gebuchten Bahnfahrten nicht mehr von den Folgeschäden vollständig freizeichnen. Das fordert eine Richtlinie der Europäischen Union. Die Bundesregierung hätte bereits 1994 das deutsche Recht den EU-Vorschriften anpassen müssen. Jetzt haben die Richter das Wort.

Ouvertüre

Der Fahrgast und Freund des Belcanto F. löst ein ICE-Ticket von Düsseldorf nach München, um dort das Konzert der "Drei Tenöre" zu besuchen. Seine Vorfreude wird rasch getrübt, da der fest gebuchte ICE auf der Strecke dank eines Oberleitungsschadens liegenbleibt und erst mit dreistündiger Verspätung am Zielbahnhof eintrifft. Just in dem Augenblick, als F. in einem Taxi die "Arena" in München erreicht, verklingen gerade die letzten Takte der Arie "Nessun Dorma" aus Puccinis Drama Turandot. Im Hinblick auf die Frage, ob F. nun von der Deutschen Bahn AG (DB AG) Schadensersatz - etwa für die Eintrittskarte - verlangen kann, bedeutete ein solcher Vorfall bislang immer auch den Auftakt einer persönlichen Tragödie.

1. Akt

Bis zum 31.12.1994 sah die Rechtslage wie folgt aus: Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) hat der Fahrgast grundsätzlich einen Anspruch auf Ersatz seines Verspätungsschadens. Dieser Anspruch wird jedoch durch die Vorschriften der Eisenbahnverkehrsordnung (EVO) ausgeschlossen. Gemäß §17 S. 1 EVO begründen Verspätung und Ausfall eines Zuges keinen Anspruch auf Entschädigung. Nach §17 S. 2 EVO ist die DB AG allein dazu verpflichtet, bei Ausfall oder verhinderter Weiterfahrt eines Zuges für die Weiterbeförderung zu sorgen. Der Anspruch des F. gegen die DB AG auf Erstattung des Eintrittspreises war demnach ausgeschlossen. Einer solchen Haftungsfreizeichnung steht auch nicht das Gesetz zur Regelung des Rechts der allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGBG) entgegen. Danach kann das Recht des Vertragspartners, Ersatz für Verspätungs- und damit für sogenannte Verzugsschäden zu verlangen, nicht gänzlich ausgehöhlt werden. Dieses Verbot greift aber nur dann ein, wenn ein solcher Ausschluß in den "Allgemeinen Geschäftsbedingungen" steht. §17 S. 1 EVO ist jedoch keine "Geschäftsbedingung", sondern eine "zwingende Rechtsnorm", so daß das AGBG als Prüfungsmaßstab keine Anwendung findet.

2. Akt

Mit der 1994 begonnenen Bahnreform fällt nun ein Ereignis auf europäischer Ebene zusammen, das in der Diskussion um den Ausschluß von Verspätungsschäden zwar bisher ausgeblendet wurde, jedoch die Rechtslage ab dem 1.1.1995 ganz entscheidend verändert. So hat der Rat am 5.4.1993 die EG-Richtlinie 93/13/EWG (EU-Richtlinie) über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen erlassen. Sie schreibt innerhalb des Binnenmarktes ein einheitliches Mindestschutzniveau vor mißbräuchlichen Klauseln vor. In den Anwendungsbereich dieser EU-Richtlinie fallen auch Beförderungsverträge. Erforderlich ist, daß der Vertrag zwischen einem "Verbraucher" und "Gewerbetreibenden" geschlossen wird. Als Verbraucher im Sinne der EU-Richtlinie gelten ausschließlich natürliche Personen, die bei ihrer Beförderung nicht zu einem Zweck handeln, der ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Der persönliche Anwendungsbereich der EU-Richtlinie erfaßt damit zwar Beförderungsverträge zwischen der DB AG und Urlaubern, nicht aber zwischen der DB AG und Geschäftsreisenden.

Innerhalb der Verbraucherverträge sind dabei grundsätzlich alle Klauseln, die nicht individuell ausgehandelt wurden, auf ihre Mißbräuchlichkeit hin zu überprüfen. Allerdings enthält die EU-Richtlinie eine für den vorliegenden Fall bedeutsame Ausnahme. Die EU-Richtlinie will allein einen Mißbrauch der Vertragsfreiheit verhindern, nicht aber eine Mißbrauchskontrolle von Gesetzen oder Rechtsverordnungen durchführen. Demnach unterliegen Vertragsklauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten beruhen, keiner direkten Kontrolle anhand der europäischen Vorgaben. Da §17 S. 1 EVO aber eine Rechtsvorschrift ist, scheint damit auf den ersten Blick alles beim alten zu bleiben.

Der europäische Gesetzgeber hat jedoch in der EU-Richtlinie jeden Mitgliedstaat verpflichtet, dafür zu sorgen, daß in seinen Rechtsvorschriften keine mißbräuchlichen Klauseln enthalten sind. Anstelle einer unmittelbaren Kontrolle hat er also einen Regelungsauftrag an die Mitgliedstaaten gerichtet. Hiernach ist die Bundesrepublik Deutschland gehalten, §17 S. 1 EVO insoweit aufzuheben, als der dortige Haftungsausschluß nach Maßgabe der EU-Richtlinie als mißbräuchlich einzustufen ist.

Nun gilt eine Klausel aus europäischer Sicht dann als mißbräuchlich, wenn sie entgegen Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht. Der Anhang der RiLi enthält hierzu einige Beispiele, die nach Einschätzung des europäischen Gesetzgebers in der Regel für mißbräuchlich zu erklären sind. Zieht man die Wertungen dieses Klauselkataloges heran, so ist der Ausschluß von Verspätungsschäden aus europäischer Sicht als mißbräuchlich anzusehen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund der beiden Ziele der EU-Richtlinie. Zum einen soll der Verbraucher effektiv und umfassend geschützt werden, zum anderen bezweckt die EU-Richtlinie, Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt abzubauen. Während nun aber §17 S. 1 EVO wegen seines Rechtsnormcharakters nicht anhand des AGB-Gesetzes zu kontrollieren ist, unterliegen vergleichbare Beförderungsbedingungen von Luftfahrtunternehmen sehr w ohl dem AGB-Gesetz und den dortigen Einschränkungen. Ein Luftfahrtunternehmen kann mithin nach Maßgabe des AGB-Gesetzes nicht in Bausch und Bogen seine Haftung für Verspätungsschäden ausschließen, anders dagegen die DB AG.

Da §17 S. 1 EVO demnach mit den Vorgaben der EU-Richtlinie unvereinbar ist, obliegt es der Bundesrepublik, die Haftungsfreizeichnung in dieser Rechtsvorschrift aufzuheben. Nach der Vorgabe der EU-Richtlinie mußte dabei die Bundesrepublik ihrer Pflicht, die Haftungsfreizeichnung in §17 S. 1 EVO zu eliminieren, bis zum 31.12.1994 nachkommen. Obwohl diese Transformationsfrist abgelaufen ist, wurde die EVO nicht neu gefaßt. Bleibt damit der Regelungsauftrag des Richtliniengebers und mit ihm der europäische Verbraucherschutz im Ergebnis wirkungslos, der Kunstfreund F. also tragischerweise auf seinem Schaden sitzen?

Finale

Einem solchen Leerlauf des Regelungsauftrags hat der Europäische Gerichtshof - gleich einem deus ex machina antiker Theaterstücke - einen Riegel vorgeschoben. Nach Ansicht des Gerichtshofes muß jeder nationale Richter nach Ablauf der Umsetzungsfrist und dem Untätigbleiben des heimischen Gesetzgebers sein nationales Recht soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um auf diesem Wege die mit einer Richtlinie verfolgten Ziele zu erreichen. Der Richter in der Bundesrepublik ist demnach verpflichtet, § 17 S. 1 EVO "richtlinienkonform" auszulegen. Das heißt, er darf diese Vorschrift nicht mehr anwenden, soweit sie nach der EU-Richtlinie als mißbräuchlich gilt.

Dies bedeutet: Bei Beförderungsverträgen, die zwischen der DB AG und Verbrauchern im Fernverkehr mit fester Buchung geschlossen werden, ist §17 S. 1 EVO nicht länger zu berücksichtigen. Hier gilt das BGB. Es gewährt einen Anspruch auf Ersatz von Verspätungsschäden, allerdings nur unter engen Voraussetzungen, die jeweils am konkreten Einzelfall zu prüfen sind:

  1. Es muß objektiv eine Verspätung vorliegen - dabei reicht eine Überschreitung der Ankunftszeit um nur wenige Minuten nicht aus.
  2. Die Verspätung muß von der DB AG verschuldet sein. Ein Verschulden entfällt, wenn eine Verspätung auf Sabotage oder Selbstmord Dritter zurückzuführen ist.
  3. Schließlich muß ein Schaden vorliegen. Ersetzt werden dabei unmittelbare Schäden wie Übernachtungs- oder Verpflegungskosten. Entgangene Lebensfreude oder vertane Freizeit sind dagegen als immaterielle Schadenspositionen ausgeschlossen.
Bezogen auf den Fall des Kunstliebhabers F. bedeutet dies: Ein Überschreiten der Ankunftszeit um drei Stunden ist ohne Zweifel objektiv eine Verspätung. Soweit der Oberleitungsschaden auf schlechte Wartung zurückzuführen ist, liegt auch Verschulden seitens der DB AG vor. Da F. wegen der Zugverspätung die Eintrittskarte nicht nutzen konnte, ist diese somit als Verzugsschadensposition zu ersetzen.

Verpassen also Verbraucher im Fernverkehr mit fester Buchung ihren Anschlußflug- bzw. ihre Anschlußfähre oder eine Sport- oder Kulturveranstaltung, sind sie nicht länger rechtlos gestellt. Das Trauerspiel hat ein Ende. Da die richtlinienkonforme Auslegung des §17 S. 1 EVO durch den Richter - allein schon aus Gründen der Rechtssicherheit - jedoch kein dauerhafter Ersatz für die gebotene Umsetzung des Regelungsauftrages ist, bleibt die Bundesrepublik weiterhin aufgefordert, §17 S. 1 EVO endlich im Einklang mit der EU-Richtlinie zu novellieren.

Der Autor:

Dr. Ansgar Staudinger ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Internationales Wirtschaftsrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ein Aufsatz zu diesem Themenkreis wird mit allen wissenschaftlichen Nachweisen in der Neuen Juristischen Wochenschrift veröffentlicht.

Der Kommentar:

Auch wenn der Fahrgast einige Rechte hat: die gegenwärtige Rechtslage ist für Fahrgäste und Unternehmen gleichermaßen unbefriedigend. Wer sich auf den Fahrplan verläßt und deswegen eine Fahrkarte kauft, hat Ansprüche nur nach der EVO: Weiterbeförderung mit dem nächsten Zug oder kostenlose Rückfahrt. Das ist zu wenig, um enttäuschtes Vertrauen zu entschädigen.
Wer reserviert, steht sich zwar ein wenig besser. Aber das nützt nichts, wenn der Nahverkehrszug den ICE verpaßt. Und ungeklärt bleibt, ob der Fahrgast der Bahn ein Verschulden nachweisen muß oder ob sich die Bahn entlasten muß. Mit dem Nachweis wäre der Kunde regelmäßig überfordert.
PRO BAHN wird daher eine übersichtliche und interessengerechte Lösung beim Gesetzgeber anmahnen. (pbz)

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