PRO BAHN Zeitung 71

Der Kahlschlag hat begonnen

Aus aktuellem Anlass machen wir hier einen Artikel zugänglich, der die unternehmenspolitischen Hintergründe der Geschäftspolitik der Deutschen Bahn AG skizziert. Er hat nichts von seiner Aktualität verloren, obwohl er bereits im August 1997 in der PRO BAHN Zeitung (Nummer 71) veröffentlicht wurde.

Kahlschlag durch die Hintertür: Das "Netz 21"

Die Deutsche Bahn AG zählt seit der handelsrechtlichen Privatisierung als Aktiengesellschaft zu den großen Konzernen dieser Republik. Unternehmen solcher Größenordnungen haben die Gepflogenheit, nicht nur ein kundenbezogenes Marketing aufzuziehen, sondern auch interne Zielsetzungen werbewirksam zu verpacken, um Mitarbeiter und Führungskräfte zu motivieren und auf die Unternehmensziele einzustimmen, aber auch um Außenwirkung in Richtung Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger zu erreichen. Nur nützen solche Anstrengungen wenig, wenn die äußeren Rahmenbedingungen nicht stimmen und organisatorische Strukturen des Unternehmens kontraproduktiv wirken. Dieses Schicksal droht dem Projekt "Netz 21" des Geschäftsbereiches (GB) Netz der Deutschen Bahn AG, das nach offizieller Lesart eigentlich als künftige Netzstrategie die Voraussetzungen schaffen soll, um mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Es mehren sich jedoch Anzeichen, die den Verdacht aufkommen lassen, "Netz 21" sei eher ei ne strategische Nebelkerze, um zu verschleiern, daß im Interesse einer "schnellen Mark" für künftige private Aktionäre große Teile des heutigen Eisenbahnnetzes aufgegeben werden sollen.

Äußere Umstände

Mit der Bahnreform wurde dem Schienenweg der DBAG die Eigenwirtschaftlichkeit verordnet. Damit wurde die seit Jahrzehnten immer wieder kritisierte Ungleichbehandlung von Schiene und Straße hinsichtlich der Wegekosten zum Nachteil der Bahn noch verschärft. Der für den Schienenweg zuständige GB Netz muß seine Kosten allein durch Nutzungsgebühren und evtl. Zuschüsse Dritter erwirtschaften. Mitte 1994 veröffentlichte die DB AG eine erste Trassenpreisliste; sie basiert auf einer Gebührenstruktur, die nicht streckenbezogen kalkuliert wurde, wohl aber mit einer Einteilung in Strecken- und Zugtypen. Die jährlichen Kosten des GB Netz lagen 1993 für das rund 41.000 km lange Streckennetz in einer Größenordnung von 6,7 Mrd. DM, wovon rund 0,7 Mrd. DM auf Abstell- und Rangieranlagen entfielen.

Kritiker weisen darauf hin, daß sich trotz einiger Nachbesserungen die Trassenpreise in einer Größenordnung bewegen, die angesichts der im Verhältnis zur Straße bestehenden Wettbewerbsverzerrungen und der Nichtberücksichtigung sozialer und ökologischer Komponenten bei der Bemessung der Wegekosten nicht akzeptabel ist. Dagegen hofft die Unternehmensleitung, im Rahmen von "Netz 21" die Fahrwegkosten halbieren und gleichzeitig das Leistungsvermögen des Netzes qualitativ und quantitativ steigern zu können. Als ein Prinzip wird die Entmischung der Verkehrsarten in den wichtigsten Korridoren und die Harmonisierung der Geschwindigkeiten auf verbleibenden Strecken mit Mischbetrieb genannt. Im Ergebnis sollen 5 Netzebenen mit spezifischen Ausbaustandards verfügbar sein (vgl. Kasten); die Netze 1 bis 4 sollen vorrangig überregionalen Verbindungen dienen. Für das R-Netz ist eine Unterteilung in Strecken des Typs R 80 und R 120 (Leitgeschwindigkeiten 80 bzw. 120 km / h) geplant. Addiert man die Lä ngen aller Netztypen, so ergibt sich die heutige Netzlänge - also alle Strecken gesichert und zum Ausbau und zur Modernisierung vorgesehen? Der Schein trügt. Denn ein weiteres Prinzip, das Prinzip Hoffnung regiert hinsichtlich der Finanzierung an dieser Maßnahmen. Weder im Bundesverkehrswegeplan noch im Finanzrahmen des Bundesschienenwegeausbaugesetzes ist das Konzept "Netz 21" bisher berücksichtigt.

Die neuen Netze der Bahn

  1. H.Netz mit 3.500 km Länge für den schnellen Personenverkehr
  2. G-Netz mit 4.500 km Länge für den Güterverkehr
  3. S-Netz mit 2.000 km Länge für S-Bahnen
  4. M-Netz mit 10.000 km Länge für Mischverkehre
  5. R-Netz mit 21.000 km Länge für Regionalverkehre

Finanzielle Realitäten

Solange für den GB Netz unter den heutigen Wettbewerbsbedingungen das Gebot der Eigenwirtschaftlichkeit besteht und auch kein Quantensprung hinsichtlich der Verfügbarkeit von Investitionsmitteln ausgelöst wird, würde eine Änderung des Preissystems lediglich auf eine Kostenverschiebung zwischen einzelnen Zugtypen hinauslaufen. Das wäre allerdings eine Rechnung mit mehreren Unbekannten.

Kurioserweise ist für den GB Netz derzeit ausgerechnet der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) dank Zuweisung der Regionalisierungsmittel nach Art.4 ENeuOG (Eisenbahn-Neuordnungsgesetz) der finanziell potenteste Besteller. In der Finanzzuweisung an die Länder für die Defizitabdeckung des SPNV, die auf der Kostenstruktur der DB des Jahres 1993 beruht, ist schließlich ein entsprechender Trassenteil als Durchschnittswert enthalten. Das Risiko für den GB Netz liegt nun in der Wahlfreiheit der neuen Aufgabenträger, die Regionalisierungsmittel auch für straßengebundenen ÖPNV und / oder für Schienenverkehre verwenden zu können, deren Infrastruktur sich nicht (mehr) im Besitz des GB Netz befindet.

Im Segment des Schienenpersonenfernverkehrs (SPFV) ist das Bild recht diffus und die finanzielle Leistungsfähigkeit hinsichtlich eines Deckungsbetrages zu den Trasssenkosten weniger an Zugtypen, sondern eher an einzelne Zugläufe gebunden: Nicht zuletzt wegen der Trassenpreise tendiert die DB AG neuerdings dazu, wenig profitable IR-Zugläufe in IC umzuwandeln und den defizitären Rest den Regionen als "Nahverkehr" anzudienen. Auch IC-Läufe werden bei schwächer belasteten Abschnitten schlichtweg umgewidmet,. So wandelt sich der IC 715 auf seiner Fahrt von Dortmund nach Oberstdorf zwischen Ulm und Oberstdorf in den RE (Regionalexpress) 715, also ein Produkt des Nahverkehrs. Geradezu katastrophal präsentiert sich die Situation im Güterverkehr. Trotz gegenteiliger Durchhalteparolen des Bahnvorstandes ist der Ausstieg der Bahn aus diesem Geschäft in vollem Gange. Auch so kann man die "Entmischung" der Strecken-Belegung betreiben. Allenfalls Ganzzüge über längere Distanzen, hauptsächlich im Ber eich der Montangüter, sind derzeit wohl noch mit einem nennenswerten Deckungsbeitrag zu den Trassenkosten fahrwürdig.

Die geschäftlichen Erwartungen des GB Netz widerspiegeln sich derzeit in einer grandiosen Rückbau-Offensive im gesamten Schienennetz, dem nicht nur die meisten der bisher dem Güterverkehr dienenden Gleisanlagen zum Opfer fallen bzw. schon gefallen sind. Selbst große Teile des einstigen Hauptbahnnetzes sind inzwischen auf Spurpläne reduziert die nur noch die Durchführung des SPNV nach heutigem Fahrplan zulassen. Die Teilstrategie "Rationalisierung durch Rückbau im Bestandsnetz" ist wohl die einzige, die im Rahmen von "Netz 21" termingerecht und umfassend realisiert wird. Es ist allerdings nicht zu erwarten, daß sich die Kosten des GB Netz linear mit der Reduzierung der Gleislängen senken lassen. Mit fortschreitender Abnahme der Güterzug-Fahrleistungen sinkt daher auch der finanzielle Spielraum für Entlastungen bzw. Umverteilungen im Bereich der verbleibenden Personenverkehre.

Vom Regen in die Traufe

Somit könnte die DB AG veranlaßt werden, ihr Preissystem weitergehend zu modifizieren und z.B. die bisher noch praktizierte Nivellierung der Kostendifferenzen zwischen billig und aufwendig trassierten Strecken zu opfern. Vorstellbar und aus der Interessenlage der DB AG nachvollziehbar ist, einen streckenbezogenen Faktor ("topographischer Schwierigkeitsgrad") einfließen zu lassen, in dem sich streckenspezifische Aufwendungen vor allem für Kunstbauten wie Brücken, Tunnel und Hangsicherungen, aber auch der Besatz mit technisch gesicherten Bahnübergängen niederschlagen. Das würde vermutlich ganz erhebliche Verschiebungen im Preisgefüge nach sich ziehen, denn - das bisherige Preissystem kennt neben der sog. "Verbindungsfunktion" lediglich eine Klassifizierung nach zulässiger Streckenhöchstgeschwindigkeit und verwendeter Sicherungstechnik, die aus der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung (EBO) ableitbar ist. Damit würde sicherlich ei igt, die auf einen Zerfall des Eisenbahnnetzes in drei Kategorien hinausläuft:
  • Strecken, die aufgrund ihrer Auslastung durch zahlende Eisenbahnverkehrsunternehmen für den GB Netz profitabel zu betreiben sind.
  • Strecken, zu deren Betrieb der GB Netz lt. § 11 AEG mangels Gewinnaussichten nicht mehr bereit ist, für die sich aber ein anderer Betreiber findet. Überwiegend werden dies wohl die Aufgabenträger des SPNV sein, denen in solchen Fällen nach Art. 1 § 26 ENeuOG ein kostenloses Nutzungsrecht auf eigene Rechnung zusteht.
  • Strecken, zu deren Betrieb der GB Netz lt. § 11 AEG nicht mehr bereit ist, für die sich aber wegen der in Relation zum Verkehrsaufkommen zu hohen Kosten auch kein anderer Betreiber findet.

Zu erwarten ist, daß sich dann in der Kategorie 1 ein Schrumpfnetz aus wenigen Hauptabfuhrstrecken wiederfinden würde, in die Kategorie 2 überwiegend billig trassierte Flachlandstrecken und stadtbahnwürdige Trassen im Großstadtumfeld hinübergerettet werden und der Großteil des heutigen Bahnnetzes, vor allem im Bereich der Mittelgebirge und der engen Flußtäler, in der Kategorie 3 landen wird.

Anzumerken ist noch, daß die DB AG vom rechtlichen Rahmen her jederzeit zu einer Änderung ihres Trassenpreissystems befugt ist. Das AEG stellt den gewerberechtlichen Rahmen für den Marktzugang privatrechtlich organisierter Eisenbahnunternehmen dar. Folglich kann, die derzeit in der Beratung befindliche Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung (EI-BV), die auf dem AEG basiert, auch keine Restriktionen hinsichtlich der Trassenpreisgestaltung, sondern lediglich Hinweise auf wettbewerbsrechtliche Spielregeln enthalten. So ist es den Unternehmen (nicht nur der DB AG) gestattet, "die Preise für die Benutzung ihrer Eisenbahninfrastruktur entsprechend der Marktlage frei zu gestalten" (§ 5 Abs. 1 EIBV). Das Preissystem muß dabei nicht wie derzeit nach einheitlichen Kriterien für das Gesamtnetz gestaltet sein, sondern kann auch individuell auf beste Strecken zugeschnitten werden (§ 5 Abs. 3 EIBV). Damit verfügt der GB Netz über ein Instrumentarium, mit dem er sich über den Trassenpreis ganz g ezielt von Strecken trennen kann die hinsichtlich ihrer Erlössituation nicht den Unternehmenszielen entsprechen.

Die Kostenrechnung als Altlast

Um das aktuelle Geschäftsinteresse der DB AG in Bezug auf das Schienennetz einschätzen zu können, bedarf es eines Blicks auf die Ausgangslage vor der Bahnreform. Damals wurde seitens der DB der SPNV als Defizitquelle Nr. 1 nicht nur nach außen hin dargestellt, sondern in den internen Kostenrechungsverfahren auch so behandelt. Die DB entsprach damit politisch motivierten Vorhaben, die darauf abzielten, das Kraftfahrzeug als Massenverkehrsmittel zu etablieren und der Eisenbahn nur noch eine Lückenbüßerfunktion auf einigen hochbelasteten Magistralen und in ausgesprochenen Ballungszentren zuzuweisen (Schlagwort: "Kleine aber feine Bahn"). Das Rezept bestand nun darin, nicht die Einzelkosten einer bestimmten Infrastruktur oder einer bestimmten Betriebsform zu erheben, sondern alle Kostenarten spartenübergreifend zusammenzufassen und dann zur Ermittlung der Einzelkosten pauschaliert nach Strecken- und Zugkilometern umzulegen. Das hatte folgenden politisch erwünschten Effekt:
  1. Die Kosten besonders aufwendiger Anlagen und Betriebsformen wurden auch auf weniger aufwendige umgelegt. Damit subventionierten der SPNV und der Güterverkehr in die Fläche den Fernverkehr.
  2. Die Kosten besonders intensiv genutzter Teile der Streckeninfrastruktur wurden auch auf weniger intensiv genutzte Teile umgelegt. Auf diese Weise subventionierte das Nebenbahnnetz das angeblich betriebswirtschaftlich optimale Kernnetz.
  3. Zusätzliche Kostenverschiebungen zu Lasten der Bahn in der Fläche wurden dadurch erzielt daß auch die Gemeinkosten auf der Basis der unter 1. und 2. genannten Schieflagen umgelegt wurden.
Diese Methode, die Bahn in der Fläche gezielt kaputtzurechnen, wurde allerdings mit fortschreitender Schrumpfung des Schienennetzes für eine Quersubvention innerhalb der DB immer unergiebiger und infolge Desinvestitionen und mangelnder Attraktivität bewegten sich die Kostendeckungsgrade der verbliebenen Zugleistungen tatsächlich auf einer Abwärtsspirale. Ende 1993 hatte die DB dann die Aufgabe, auf der Basis ihrer Berechnungsmethoden die künftig an die Aufgabenträger des SPNV zu verteilenden SPNV-Betriebskostenbeihilfen beziffern zu müssen. Den nach einer Offenlegung und Revision der bisherigen Kostenrechnungspraxis zu erwartenden Eklat wollte wohl niemand riskieren, weshalb dann mit 7,9 Mrd. DM ein Betrag in das Regionalisierungsgesetz einging, von dem man annehmen darf, daß darin Deckungsbeiträge für Aktivitäten der DB enthalten sind, die nichts mit dem SPNV zu tun haben. Über den Umfang gibt es Spekulationen, die bis zu einem Anteil von 40% reichen.

Damit steht die heutige DB AG vor dem Problem, quasi durch einen "Betriebsunfall" erhebliche Geldmittel zur Aufwandsdeckung von Aktivitäten auch außerhalb des SPNV nicht mehr in ihrer Verfügung zu haben. Sie muß daher jetzt primär darauf bedacht sein, alljährlich die Regionalisierungsmittel möglichst ungeschmälert bei den nach den jeweiligen Ländergesetzen für den SPNV zuständigen Aufgabenträgern wieder einzusammeln. Ganz im Sinne dieser Taktik vermeidet die DB AG nach Möglichkeit Diskussionen um streckenbezogene Kostenstrukturen und möchte den Zug-Kilometer als "Einheitswährung" und Verrechnungseinheit verstanden wissen. Zug-Kilometer können dann bei Fahrplan- und Angebotsumstellungen im Verhältnis 1:1 getauscht werden, von einer Strecke im Gebiet des Aufgabenträgers zu einer anderen.

Das erklärt auch die relativ geringen Preisdifferenzen zwischen den Nah- und Fernverkehrszügen innerhalb des Trassenpreissystems. So zahlt z.B. für den Streckenabschnitt Bielefeld - Hamm (für 250 km / h ausgebaut) ein Leichttriebwagen immerhin 68% der Nutzungsgebühr, die für eine ICE-Garnitur verlangt wird. Dem SPNV wird somit eine erhebliche Kostenbeteiligung an einem auf Hochgeschwindigkeitsverkehr ausgelegten Ausbaustandard abverlangt, den er selbst nicht ausnutzen kann. Die DB AG muß somit ein besonderes Interesse haben, Zugfahrleistungen des SPNV im Verhältnis 1:1 auf Strecken umzuschichten, auf denen eine gemeinsame Infrastrukturnutzung mit SPFV und Güterverkehr stattfindet. Nur dort kann die altbewährte Quersubvention anderer Sparten auf Kosten des SPNV unter den neuen Rahmenbedingungen einigermaßen unauffällig funktionieren. Mit der Einbindung des Schienennetzes in die eigene Unternehmensstruktur verfügt die DB AG dazu über ein wirksames Steuerungsinstrument.

Zermürbungstaktik

Im Umkehrschluß: Die DB AG muß ein großes Interesse daran haben, Zugfahrleistungen von Strecken abzuziehen, die im "Netz 21" als R-Netz bezeichnet werden und auf denen nur noch SPNV und evtl. noch ein marginaler Güterverkehr gefahren wird. Aufgrund unterlassener Modernisierung und Rationalisierungsmaßnahmen decken inzwischen auf solchen Strecken die vom SPNV und Güterverkehr gezahlten Trassenpreise in den wenigsten Fällen die tatsächlich anfallenden Infrastrukturkosten. Modernisierungsmaßnahmen sind dennoch unerwünscht, selbst wenn sie von Land oder Kommunen maßgeblich mitfinanziert und der DB geradezu aufgedrängt werden, denn die Umschichtung der Zugfahrleistungen auf Strecken des Fernverkehrs ist profitabler.

Hinzu kommt der Umstand, daß bei einer Verlagerung von SPNV-Leistung auf andere Schienenstrecken die als Ersatz einzurichtenden Buslinien meist auch das Geschäft der DB AG sind, und zwar über ihr Tochterunternehmen Bahnbus-Holding, zumindest in den alten Bundesländern. Dort hat entlang der meisten Bahnstrecken und durchweg bei den Nebenstrecken der Bahnbus schon im Laufe der 50er und 60er Jahre Buslinienkonzessionen für Schienenparallel- und Schienenersatzverkehre erworben. Diese sind selbst nach dem heute geltenden PBefG bestandsgeschützt, d.h. den Bahnbusunternehmen fällt das Ausgestaltungsrecht zu, wenn der SPNV eingestellt wird. Um dies Geschäft noch effizienter in den Griff zu bekommen, entstehen, beginnend mit Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg, die regionalen Zug-Bus GmbH durch Fusion der an Ländergrenzen ausgerichteten Regionalbereiche des SPNV mit den regionalen Bundesbus-Unternehmen. Die Umstellung von Schienen auf Busbedienung ist dabei Programm. Zitat: "Doch bleibt abzuwarten, inwieweit hohe Erwartungen an die erfolgreiche Expansion des Schienenverkehrs eintreten und ob der Schienenverkehr auf Dauer den Finanzverantwortung tragenden Aufgabenträgern nicht zu teuer wird. In diesen Fällen ist der Bahnkonzern immer in der Lage, mit Hilfe der vorhandenen regionalen Busgesellschaften im Angebot flexibel zu reagieren." Zitat Ende. Nun gehört wenig Phantasie dazu, zu erkorenem, woran es wohl liegen könnte, wenn die Schiene den Aufgabenträgern zu teuer wird: wohl kaum an der neuen Generation von Leichttriebwgen und auch nicht an den Preisvorstellungen privater Eisenbahnbetreiber, die in Konkurrenz zur DB AG auftreten. Aber an veralteter Streckeninfrastruktur und überhöhten Trassenpreisen wird es liegen. Dem GB Netz kommt somit eine Schlüsselrolle zu, die Finanzst röme der Regionalisierungsmittel dorthin zu lenken, wo sie für das Konzern- der DB AG am profitabelsten sind.

Es gibt inzwischen erste Beispiele, daß der GB Netz in Sachen R-Netz auf Zeit spielt und die Länder und Kommunen bei dem Versuch, sich an der Modernisierung der Infrastruktur des SPNV-Netzes zu beteiligen, "auflaufen" läßt. So ist der GB Netz in Sachsen mit vertraglich vereinbarten Anpassungsarbeiten für den Einsatz von Leichttriebwagen den Strecken Zwickau / Reichenbach - Klingenthal / Adorf inzwischen ein Jahr im Rückstand. Im zuständigen sächsischen Ministerium macht das Wort "Sabotage" die Runde. Die Durchführung notwendiger Infrastrukturmaßnahmen in Zusammenhang mit der Einführung des Rheinland-Pfalz-Taktes erforderte ständige Interventionen des zuständigen Landesministers direkt beim Bahnvorstand, um die Einhaltung von Terminen halbwegs sicherzustellen. Mit der Feststellung "Der GB Netz gefährdet die Arbeitsplätze beim GB Nahverkehr" hatten Mitarbeiter aus der Projektleitung die Situation wohl treffend beschrieben. Konzepte zur Sanierung einzelner Strecken, die seitens der Kommun en der DB AG geradezu abgerungen werden müssen, entpuppen sich bei näherer Prüfung als eine Art "Trojanisches Pferd". In erster Linie läßt sich dabei der GB Netz den Rückbau von Anlagen, z.B. von zweiten Gleisen, Kreuzungsstellen und Nebengleisen bezahlen. Unter dem Strich bleibt dann eine Strecke übrig, die hinsichtlich Kapazität und Anpassung des Betriebsprogramms im Störungsfall oder bei Taktverdichtungen weniger leistungsfähig ist als vorher und auch keinerlei Güterverkehr mehr zuläßt.

Erst recht nicht im Sinne der Unternehmensziele ist die Erweiterung des Zugangebotes auf Nebenstrecken oder gar die Reaktivierung stillgelegter Strecken, würde doch damit einer aus Sicht der DB AG unerwünschten Aufweichung der Leitwährung "Zugkilometer" Tür und Tor geöffnet. Denn die Aufgabenträger müßten zwangsläufig Regionalisierungsmittel in die erweiterten SPNV-Netze umschichten und die DB AG verstärkt dem Wettbewerbsdruck durch nichtbundeseigene Eisenbahnen auch auf ihrem eigenen Netz aussetzen, um bisherige Fahrtenangebote mit geringerem Zuschußbedarf aufrechterhalten zu können.

Schließlich sitzt die DB AG bei der momentan gültigen Rechtslage am längeren Hebel, wenn sie die Übernahme einer Streckeninfrastruktur durch den SPNV-Aufgabenträger und den Weiterbetrieb durch eine anderes Eisenbahnunternehmen verhindern will. Nach § 11 AEG hat der Aufgabenträger erst dann die Möglichkeit zur kostenfreien Übernahme einer Strecke, wenn der GB Netz nicht mehr zur weiteren Vorhaltung der Strecke bereit ist und zum Zeitpunkt der beabsichtigten Stillegung noch SPNV betrieben wird. Da gibt es Spielräume für den GB Netz und den GB Nahverkehr, diese Konstellation zu verhindern. Und selbst wenn der Aufgabenträger bereit ist, eine Strecke zu marktüblichen Immobilienpreisen zu erwerben, zeigt der GB Netz, daß einige seiner Mitarbeiter die zu Zeiten der Bundesbahn erlernte "Taktik der verbrannten Erde" nicht vergessen haben. Es ist sicherlich kein Zufall, wenn der GB Netz unter Hinweis auf gescheiterte Übernahmeverhandlungen mit dem zuständigen Landkreis für eine Strecke in Nieder sachsen den Stillegungsantrag beim Eisenbahn-Bundesamt stellt, der betroffene Landkreis aber nichts davon weiß. Und es mag auch niemand an einen Übereifer der Sachbearbeiterebene glauben, wenn auf einer seit Jahren brachliegenden Strecke im Münsterland ausgerechnet in dem Moment die Gleise herausgerissen werden, als sich ein Förderverein für den Schienenverkehr formiert und zu allem Überfluß die Absicht einer Kreisverwaltung durchsickert, die Reaktivierung der Strecke gutachterlich prüfen zu lassen.

Demnächst Kapitalismus pur?

Die Unternehmenspolitik der DB AG dürfte sich in den kommenden Jahren auf Gewinnerwirtschaftung um jeden Preis konzentrieren. Spätestens im Jahre 1999, so will es § 2 des DBGrG (Deutsche Bahn Gründungsgesetz), sind die heutigen Geschäftsbereiche in selbständige AG unter dem Dach einer DB-Holding auszugliedern. Damit ist zwar nicht automatisch der Gang an die Börse verbunden, aber möglich und sogar wahrscheinlich. Denn nach dem spektakulären Börsengang der Telekom werden die Privatisierungs-Ideologen im Regierungslager mit Sicherheit in Richtung Börsengang auch der DB AG drängen. Die Konsequenz: Es wird für das Bahn-Management nicht mehr ausreichen, zur alljährlichen Bilanz-Pressekonferenz eine "schwarze Null" zu präsentieren. Gefordert sein werden Gewinne, die für die Aktionäre angemessene Dividendenrenditen und Kurssteigerungen sicherstellen.

Welche Auswirkungen sind für das Schienennetz zu erwarten? Ein Börsengang der künftigen Netz AG müßte durch ein separates Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, näher geregelt werden. Nach Art. 87e GG und § 2 Abs. 3 DBGrG ist dabei zwar sicherzustellen, daß eine wenn auch hauchdünne Mehrheit der Anteile und Stimmrechte von mindestens 50,1% beim Bund verbleibt. Aber selbst wenn der Bund der Mehrheitsaktionär dieser Netz AG bleiben muß, würde ein Stimmrecht von 49,9% z.B. in der Hand von Großaktionären aus dem Automobil- und Mineralölbereich angesichts der Verfilzung zwischen Regierungsparteien und Großindustrie völlig ausreichen, um die Unternehmenspolitik nachhaltig auf deren Interessenlage auszurichten. Auch werden die Unternehmensstrategen sehr schnell feststellen, daß sich zweckentfremdete Bahn-Immobilien häufig lukrativer vermarkten lassen als betriebsfähige Bahnstrecken. Railtrack, das britische Pendant zur Netz AG, exerziert das gerade eindrucksvoll vor, mit spe ktakulären Kursavancen an der Londoner Börse.

Reformbedarf nach der Reform

Die Integration des Fahrweg-Bereiches in den Unternehmensverbund DB AG erweist sich bereits kurz nach Inkrafttreten der Bahnreform als ein verhängnisvoller Mißgriff, der für das Eisenbahnnetz in Deutschland substanzgefährdende Auswirkungen signalisiert. Dringend notwendig ist primär eine Überführung des GB Netz in eine anbieterneutrale Organisation. Anbieterneutral heißt in diesem Fall: keine Organisations- und Kapitalverflechtungen mit einem Anbieter von Eisenbahnverkehrsleistungen. Dies könnte durch eine beim Eisenbahn-Bundesamt angesiedelte oder dem Eisenbahn-Bundesamt gleichrangige Infrastruktur-Behörde nach schwedischem Vorbild erreicht werden. Diese Lösung würde aber in einem erheblichen Umfang Änderungen an bestehenden Gesetzen und Verordnungen erfordern. Auch würde eine solche Gleisnetz-Behörde, die dann organisatorische Parallelen zur Straßenbau-Bürokratie aufweisen würde oder gar, wenn man einigen im Vorfeld der Bahnreform formulierten Denkmodellen folgt, an diese angeglieder t werden könnte, einen Rückfall in Behördenbahn-Mentalität signalisieren. Privatwirtschaftliche Organisationsformen haben unbestrittene Vorteile, sofern sie richtig kanalisiert werden.

Die Unternehmensform einer Aktiengesellschaft sollte daher beibehalten werden, allerdings ohne den Gang an die Börse. Statt dessen sollten Anteile und Stimmrechte nach einem zu ermittelnden Verteilungsmodus dem Bund und den Ländern zugewiesen werden. Dies könnte in einem Gesetz festgelegt werden, das laut DBGrG ohnehin verabschiedet werden müßte, falls sich der Bund von Aktien der Netz AG trennen will. Die notwendige Anbieterneutralität einer künftigen Netz AG mit Bund und Ländern als ausschließlichen Aktionären würde dadurch abgesichert, daß die Netz AG nicht in eine Konzern-Holding mit den übrigen Bahn-AG einbezogen wird. Auch diesen Schritt schließt das derzeit gültige DBGrG nicht aus. Auch an der Konstruktion, daß die vor dem 1.1.1994 erworbenen bahnnotwendigen Liegenschaften sich über das Bundeseisenbahnvermögen im Eigentum des Bundes befinden und der Netz AG lediglich zur Nutzung zur Verfügung stehen, müßte sich nichts ändern. Beibehalten werden sollte auch die im GG verankerte A nteilsmehrheit des Bundes, obwohl bei Gewichtung der auf dem Schienennetz erbrachten Verkehrsleistungen eine Ländermehrheit eigentlich sachgerechter wäre. Eine durch Grundgesetzänderung zu bewirkende Verschiebung der Anteilsmehrheit auf die Länder würde aber zwangsläufig den Wegfall der in Art. 87e Abs. 4 GG festgelegten Gemeinwohlverantwortung des Bundes für ein bundeseigenes Schienennetz bedeuten. Der Bund sollte keinesfalls aus dieser Verantwortung entlassen werden, obwohl die derzeitige Regierung ihr nicht nachkommt und lieber mit dem Transrapid herumspielt.

Eine vordringliche Aufgabe wäre eine Inventur des Eisenbahnnetzes hinsichtlich unterlassener Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen, die letztlich auf das Konto derer gehen, die für die ehemalige Bundesbahn unternehmerische und politische Verantwortung hatten. Daraus abzuleiten wäre ein mehrjähriges Investitionsprogramm, das sicherlich auch interessante Perspektiven für den Arbeitsmarkt bieten würde. Bis zur Umsetzung dieses Programms würde streckenbezogen ein Zuschuß zu den Trassenkosten gezahlt, der die Differenz zwischen den Betriebskosten unter Status-quo-Bedingungen und den nach dem Stand der Technik möglichen ausgleicht. Ferner ist der § 11AEG zu novellieren, um das kostenfreie Nutzungsrecht einer Strecke durch den Aufgabenträger des SPNV auch in den Fällen übertragen zu können, wo der GB Netz bzw. die Netz AG durch die Unterlassung von Investitionen den Fortbestand einer Strecke gefährdet und der Aufgabenträger nachweisen kann, daß er ein für die Allgemeinheit günstiger es Betriebskonzept gewährleistet.

Ein Fall für das Bundeskartellamt oder gar den EG-Gerichtshof sind die im Aufbau befindlichen regionalen Zug-Bus-GmbH. Durch den Unternehmensverbund mit dem Monopolanbieter des Schienenfahrwegs und geschätzt durch das Konzessionsrecht im PBefG (Personenbeförderungsgesetz), verfügt die DB AG über eine dominierende Marktposition, mit deren Hilfe sich Konkurrenten fernhalten und die Aufgabenträger "abzocken" lassen.

Ohne diese Korrekturen am Gesamtwerk der Bahreform besteht die Gefahr neuer Kahlschlagaktionen im bundesdeutschen Eisenbahnnetz und einer Zweckentfremdung der originär zur Förderung des SPNV vorgesehenen Regionalisierungsmittel einerseits für weniger attraktive Schienenersatzverkehre auf der Straße, andererseits für die Alimentierung von Fernreisezügen. Letzteres könnte dann nach einem Börsengang der DB AG zur Gewinnmaximierung mißbraucht werden, um die Aktien auf dem internationalen Parkett der Spekulanten hoffähig zu machen. Natürlich mit dem "Bonbon", daß künftig so mancher ICE mit Fahrausweisen der Verkehrsverbünde plus saftigem Komfortzuschlag benutzt werden darf. Denn alle wollen schließlich einen attraktiven ÖPNV. Zumindest dort, wo die ADAC-Flugbeobachtung trotz sechsspurig ausgebauter Autobahnen immer wieder Staus meldet.

Eckehard Frenz
aus VERKEHRSZEICHEN 1/1997
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
Dr. Klaus Kalwitzki, Muhrenkamp 111, 45468 Mülheim/Ruhr.

Literaturhinweise
K.-D. Streit / L. Partsch: Netz 21 - die künftige Netzstrategie der Deutschen Bahn AG"
E. Fricke / N. Janiak: "Netz 21- Mehr Verkehr auf die Schiene', Eisenbahntechn. Rundschau, Heft 9/19
A. Stempel: "Kostensenkende Standards für Nahverkehrsstrecken - ein Demonstrationsbeispiel", Eisenbahntechn. Rundschau, Heft 9/1996
T. Sarrazin, "Die Finanzierung des ÖPNV - gelöste und ungelöste Probleme", Vortrag auf einer Fachkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung, November 1994 in Mülheim an der Ruhr
W. Stertkarnp "Fünf Jahre erfolgreicher Buskonzern der Deutschen Bahn AG", Ztschr. f. Intern. Verkehrswesen Heft 6 /1996

PRO BAHN Zeitung Nr. 71 (3/1997)