Nachlösen: Ärger ohne Ende

Dokumentation aus dem Jahr 2000

Die Bahn will die Gebühren zum Nachlösen im Zug erhöhen. Ab 1. Januar 2000 soll der Fahrgast 10 DM zahlen, wenn er Fahrkarte in einem Fernzug von DB Reise&Touristik nachlöst. Damit müssen wieder einmal Fahrgäste, die ehrlich sind und wirklich aus widrigen Gründen keine Fahrkarte kaufen konnten darunter leiden, dass andere Fahrgäste unehrlich sind und die Lücken im System nutzen.

Nachvollziehbare Gründe

Die Hintergründe sind nachvollziehbar. Immer öfter tauchen gerade im ICE Kunden auf, die mit einem Stapel von Geldscheinen wedeln, wenn das Personal naht. Aber auch immer öfter kommen Reisende in der letzten Minute, die lieber gleich in den Zug springen, statt zum Fahrkartenschalter zu gehen und den nächsten Zug zu nehmen. Das Personal kommt zeitweise mit dem Ausstellen von Fahrkarten trotz der Mobilen Terminals nicht mehr nach. Damit schlüpfen andere Fahrgäste durch die Kontrolle, die es genauso auf das Nachlösen angelegt hatten und fahren gratis. Auch echte Schwarzfahrer sind nie um eine Ausrede verlegen, warum sie keine Fahrkarte lösen konnten.

Zusätzliche Probleme gibt es beim Bargeld. Die Schaffner müssen immer höhere Beträge mitnehmen, oft tauchen die Nachlöser mit Scheinen auf, die ganz einfach nicht zu wechseln sind und in keinem Verhältnis zum Fahrpreis stehen. Für das Personal wird die Situation zum Sicherheitsrisiko.

Auf dem Rücken der Kunden

Die Kehrseite: Die Bahn schafft sich die Probleme selbst. Immer öfter muss der Fahrgast nachlösen, ohne dass er dafür verantwortlich ist. Immer mehr Fahrkartenausgaben werden geschlossen. Fahrkartenausgaben, die noch offen sind, haben immer kürzere Öffnungszeiten. Trifft der Kunde einen lebendigen Fahrkartenverkäufer an ist dieser oft genug überlastet.

Der Integrale Taktfahrplan tut ein Übriges: Immer mehr Züge starten zur gleichen Zeit, das Geschäft des Fahrkartenverkaufs konzentriert sich auf wenige Minuten vor dem Taktknoten. Immer kürzer werden die Zeiten, die zwischen Ankunft eines Anschlussbusses und der Abfahrt eines Anschlusszuges liegen, die Zeit genügt nicht, um einen Fahrschein zu lösen, schon gar nicht, wenn man nicht "einmal geradeaus" lösen kann. Der Kauf der Fahrkarte für eine Familie wird zum Stress für Käufer und Verkäufer.

Immer mehr Automaten werden ein Opfer des Vandalismus, oder sie haben - nach einem Wochenende etwa - kein Wechselgeld mehr zur Verfügung.

Was bleibt da anderes übrig, als im Zug zu lösen? Und da beginnt der Ärger: Glaubt der Schaffner dem Fahrgast die Geschichte vom kaputten Automaten? Kann der Schaffner nachkontrollieren, dass der Automat nach einem langen Wochenende wirklich kein Wechselgeld mehr hatte? Muss der Schaffner glauben, dass der Fahrgast wirklich nichts anderes als einen 50-DM-Schein hatte, den der Automat nicht nahm? Weiß er auswendig, wann die Fahrkartenausgaben schließen? Immer wieder gibt es heiße Diskussionen zwischen Fahrgast und Personal.

Andere Fälle werden nicht erfasst. Der Fahrgast, der eine S-Bahn besteigt und mit einem 5-Minuten-Anschluss in den Intercity umsteigt, hat auch keine Chance, einen Fahrschein im Vorverkauf zu lösen. Nicht anders geht es dem Fahrgast, dessen Bus im Stau steckengeblieben ist, und der gerade noch den Zug erwischt. Es ist leicht dahingesagt, dass sie doch einen Zug früher h= ätten fahren können. Manche S-Bahn fährt am Wochenende nur alle 60 Minuten, und mancher Bus gar nur einmal am Tag.

Wie soll ein Fahrgast nachweisen, dass er eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges am Schalter war, der einzige Verkäufer aber mit einem anderen Kunden eine Viertelstunde beschäftigt war? So lange dauert es nämlich manchmal, bis jemand seine Ferienreise gebucht hat.

Zur falschen Zeit

Die geplante drastische Anhebung des Nachlösezuschlages kommt nach Art und Umfang zur falschen Zeit. Die Deutsche Bahn hat es bisher nicht geschafft, die Zukunft des Fahrkartenverkaufs einzuläuten. Am Tarif wird weiter herumgebastelt und er ist längst noch nicht praktikabel.

Ganz besonders getroffen wird aber derjenige, der zum ersten Mal nach langer Zeit mit der Bahn Kontakt aufnimmt. Und von diesen der Bahn entwöhnten Autofahrern gibt es bei uns sehr viele. Er kommt zum Bahnhof, der erste lebende Ansprechpartner ist der Schaffner im Zug, der ihm eröffnet, dass er nunmehr 10 DM extra zu zahlen habe. Was daran unternehmerisch ist, fragt sich dieser Fahrgast vergebens. Oder er fragt nicht, sondern steigt wieder in sein Auto. Alle diese Unzulänglichkeiten werden erst einmal auf dem Rücken des Fahrgastes ausgetragen, indem die Nachlösegebühren erhöht werden.

Wer mit einem gültigen Fahrschein eines anderen Verkehrsmittels kommt, sei es eine Monatskarte oder sei es ein Einzelfahrschein, dem wird man glauben müssen, dass er ein guter Kunde des öffentlichen Verkehrs ist und knappe Anschlüsse verhindert haben, dass er den Fahrschein noch gelöst hat. Auch er sollte von der Nachlösegebühr befreit werden. Der Fernverkehr der Bahn kann sich nicht benehmen wie eine Fluglinie, denn der Intercity ist in Wirklichkeit eine Städtestraßenbahn.

Und in den Reisezentren muss die Abfertigung eiliger Kunden konzentriert und vereinfacht werden. Es können Nummernsysteme helfen, mit denen die Reisenden an mehreren Schalter in der Reihenfolge ihrer Ankunft bedient werden. Diese Nummern können aber auch nachweisen, wann man den Schalter erreicht hat und dennoch trotz angemessener Wartezeit nicht bedient worden ist. Dennoch: Das Nachlösen im Zug muss auch künftig möglich sein. Ein Ermessensspielraum sollte dem Zugpersonal auf jeden Fall zugestanden werden.

(re)