Motion David

Schneller von Zürich nach München: Endlich reale Chancen?

Defizite im Bodenseeraum und in der Anbindung nach München



Mittlerweile ist es kein Geheimnis mehr: Beim Versuch, unattraktiv lange Reisezeiten im Fernverkehr ausschliesslich durch organisatorische Massnahmen oder neues Rollmaterial zu verkürzen, stossen die Bahnen rasch an ihre Grenzen. Im Wettbewerb mit dem Strassen- und Luftverkehr haben sie vielfach nur noch Chancen, wenn es auch gelingt, eine bessere (d.h. schnellere und/oder leistungsfähigere) Infrastruktur bereit zu stellen. Der Nachholbedarf in der Bodenseeregion, und insbesondere am deutschen Ufer, ist eklatant: Im Jahr 2001 ermittelte die langfristig angelegte Strategiestudie "Bodan Rail 2020" einen Investitionsbedarf von rund 2.2 Mia Euro in das Schienennetz rund um den See, davon über 1.5 Mia Euro auf deutschem Territorium. Mit dieser Summe könnte bis zum Horizont 2020 ein attraktiv vernetztes Angebotskonzept über die Staatsgrenzen hinweg umgesetzt werden. Doch welche Chancen hat der Vorschlag wirklich, wenn man bedenkt, dass der Grossraum Bodensee von den Regierungen in Berlin, Stuttgart und München meist als Randregion wahrgenommen und seine wirtschaftliche und grenzüberschreitende Bedeutung unterschätzt wird?

Zumindest für ein wichtiges Vorhaben im Fernverkehr, die Beschleunigung der Strecke (Zürich-) Lindau - München, sind die politischen Aussichten vor kurzem gestiegen. Dies ist auch dringend nötig: Während eine Autobahn durchs Allgäu gebaut und die Flugverbindungen (im Wettbewerb der beiden nationalen Carrier Lufthansa und Swiss) erheblich erweitert wurden, fährt der Eurocity immer noch ohne Taktfahrplan und nur viermal täglich auf einspuriger DB-Strecke, mit Diesellok und viereinhalb Stunden Reisezeit zwischen den Hauptbahnhöfen von Zürich und München, die in "Bodan Rail" als "Agglomerationen internationaler Bedeutung" und dem Bodenseeraum nächstgelegene Metropolen eingestuft werden. Bisher scheiterten alle Versuche, das Fernverkehrsangebot auf dieser Achse attraktiver zu gestalten. Im Gegenteil: Der Fernverkehr Zürich - München hat früher bessere Zeiten gesehen, mit mehr Zugsverbindungen und direkten Zügen bis nach Lyon und Prag.

Neue Perspektiven durch Elektrifizierung

Welche neuen Perspektiven ergeben sich aufgrund der aktuellen politischen Diskussion für diese Achse? Die DB AG wird beide Allgäu-Verbindungen von Lindau nach München in den nächsten Jahren für Neigetechnik ausbauen. Damit könnten sich endlich erste Reisezeitverkürzungen realisieren lassen. Ein in Deutschland noch wenig bekannter politischer Vorstoss aus der Schweiz könnte allerdings mehr bewirken: Am 18. Juni 2002 nahm der Ständerat, eine von zwei Kammern des Schweizer Parlaments (Vertretung der Kantone), einstimmig eine Motion des St.Galler Ständerates Eugen David an, in der gefordert wird,  "in das bevorstehende Bundesgesetz über den HGV-Anschluss der Ostschweiz und der Westschweiz auch für die Ostschweiz eine Regelung vorzusehen, wonach für Investitionen an Bahnanlagen jenseits der Grenze, welche im Interesse der Schweiz liegen, vom Territorialitätsprinzip abgewichen werden kann". David geht von der Beobachtung aus, dass eine derartige Finanzierungslösung für den Hochgeschwindigkeits (HGV)-Anschluss der Westschweiz bereits im Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Frankreich vorgesehen ist. Die HGV-Anschlüsse der Schweiz werden im Rahmen des FinöV-Fonds (Finanzierung der Grossprojekte des öffentlichen Verkehrs) mit insgesamt 1.2 Mia CHF vom Bund finanziert. Der Betrag wird hälftig aufgeteilt, so dass auf die Anbindung der West- und Ostschweiz ans europäische Schnellfahrnetz je 600 Mio CHF entfallen. Mit dem französischen Verkehrsministerium wurde am 18. Januar 2002 in Paris vereinbart, dass sich die Schweiz aus dem Budget "HGV Westschweiz" pauschal mit 200 Millionen Franken an Ausbauten auf dem französischen Eisenbahnnetz beteilligt. Dies betrifft insbesondere die Ausbaustrecke Bellegarde - Bourg-en-Bresse (Ligne du Haut-Bugey), mit der sich die TGV-Reisezeit Genève - Paris bis 2006 auf drei Stunden verkürzen lässt. Die Strecke liegt auf französischem Gebiet, so dass sie nach dem bei Verkehrswegeinvestitionen üblichen Territorialitätsprinzip von Frankreich zu finanzieren wäre. Allerdings hat Frankreich an der Anbindung der Schweizer Stadt Genf nur geringes Interesse, und auf französischer Seite werden durch die Linie nur verhältnismässig dünn besiedelte Regionen in Hochsavoyen an den TGV angebunden. Daher übernimmt die Eidgenossenschaft einen massgeblichen Beitrag aus dem FinöV-Fonds (HGV-Mittel). Beim Staatsvertrag mit Deutschland wurde dagegen davon ausgegangen, dass das Interesse beider Länder an grenzüberschreitenden Ausbaumassnahmen (wie Zürich - München) gleich gross ist. Deshalb waren Investitionen der Schweiz auf deutschem oder österreichischem Gebiet bisher nicht vorgesehen.

Angebot der Schweizer

Wenn die Motion David auch im Nationalrat, der zweiten Kammer, angenommen wird, hat Bundesrat Leuenberger, der Schweizer Verkehrsminister, einen neuen parlamentarischen Auftrag, mit Deutschland und Österreich nachzuverhandeln und eine Mitfinanzierung für die Elektrifizierung von Lindau bis zum Münchner S-Bahn-Endpunkt Geltendorf sowie für den Ausbau der grenznahen Knoten Bregenz, Feldkirch und Singen anzubieten. Trotz einer skeptischen Stellungnahme des Bundesrates zu einem solchen Verfahren stimmten die Ständerats-Abgeordneten einstimmig zu. Sie bekräftigten damit die Schweizer Staatsauffassung, dass alle Landesteile gleich wichtig sind, so dass z.B. die Ostschweiz nicht schlechter gestellt werden darf als andere Gebiete. Das entsprechende Selbstbewusstsein der Ostschweiz, nicht einfach eine weit von Bern entfernte Randregion, sondern ein gleichberechtigter Landesteil zu sein, hat in letzter Zeit deutlich zugenommen.

Wie reagiert Deutschland?

Und in Deutschland? Für die Regionen zwischen Lindau und München ergibt sich damit erstmals eine realistische Aussicht, die Hauptstrecke des Eurocity-Verkehrs zwischen zwei Zentren europäischer Bedeutung zu elektrifizieren und die Gesamtreisezeit um etwa eine Stunde zu verkürzen. Es könnte die grösste, aber auch die letzte Chance einer solchen Investition sein. Darum kommt es jetzt darauf an, dass Deutschland ebenfalls seinen Teil beiträgt, damit ein gemeinsames Vorhaben aufs Gleis gebracht werden kann. Zumindest auf kommunaler Ebene ist man sich der Bedeutung des Berner bzw. St.Galler Votums teilweise bewusst: So schrieb Dr. Holzinger, der Oberbürgermeister von Memmingen, bereits an den Bundesverkehrsminister und wies auf die Motion David und das Interesse seiner Stadt hin. Spätestens wenn sich die deutschen Wahlkampf-Wogen etwas geglättet haben, könnten andere seinem Beispiel folgen.

Zur weiteren Information ist der Text der Motion mit der Stellungnahme des Bundesrates in der schweizerischen Parlamentsdokumentation unter der Nummer 02.3121 und damit im Internet einsehbar.

Text: Hubert Riedle (September 2002)