1 Problemdarstellung

1.1 Gegenüberstellung von Individual- und Fahrplanverkehr

Für die Suche optimaler Wege in Verkehrs-, Kommunikations- und Leitungsnetzen stehen heute mit der Graphentheorie sowie ausgereiften Suchalgorithmen äußerst leistungsfähige Werkzeuge zur Verfügung. Es wird hier bewußt nicht von kürzesten Wegen sondern von optimalen Wegen gesprochen, um deutlich zu machen, daß bei der Ermittlung eines solchen Weges sehr unterschiedliche Kriterien maßgebend sein können. Unter dem Begriff optimaler Weg ist der Weg mit den geringsten Aufwendungen, bezogen auf die vorgegebenen Kriterien, zu verstehen. Der optimale Weg kann dabei je nach Anwendungsfall beispielsweise der entfernungsmäßig oder zeitlich kürzeste Weg, der kostengünstigste Weg oder aber auch der Weg mit den wenigsten Umsteigevorgängen sein. Beliebige andere Kriterien, ja sogar Kombinationen von Kriterien sind denkbar.
Zu Graphentheorie und Suche optimaler Wege in Graphen ist ausreichend Literatur verfügbar, beispielsweise UNIGIS M9 (1996), TURAU (1996) oder ROSE (1996) A.

Die üblicherweise in der einschlägigen Literatur beschriebenen Verfahren beruhen jedoch auf einigen Annahmen, die im Hinblick auf öffentliche Verkehrsmittel unzutreffend sind:

Anwendungen, die sich sich primär auf Individualverkehrsmittel beziehen, haben mit derartigen Annahmen in der Regel keine gravierenden Probleme. Durch die Fahrplanbindung der meisten öffentlichen Verkehrsmittel (nur von solchen soll hier die Rede sein), ergeben sich aber wesentliche Unterschiede zum Individualverkehr.

1.1.1 Individualverkehr

In der Regel ist davon auszugehen, daß Änderungen kontinuierlich und nicht sprunghaft verlaufen. Wo dies doch der Fall ist, beispielsweise durch tageszeitabhängige Tarifsprünge in Mautsystemen, werden zwischen diesen Änderungen verhältnismäßig lange Phasen konstanter Werte liegen. In den meisten Fällen werden bei Anwendungen für den Individualverkehr konstante oder nur selten variierende Durchfahrtsaufwendungen für eine bestimmte Kante angenommen.

So lassen sich PC-Programme zur Wegeplanung in der Regel vom Anwender auf dessen Fahrgewohnheiten einstellen. Es können vor allem für verschiedene Straßenkategorien unterschiedliche Reisegeschwindigkeiten vorgegeben werden. Diese Geschwindigkeitsvorgaben werden dann aber einheitlich für die gesamte Wegesuche zur Reisezeitbewertung der entsprechenden Kanten herangezogen.

Unterschiedliche Durchfahrtsaufwendungen, beispielsweise durch schwankendes Verkehrsaufkommen im Laufe eines Tages, lassen sich durch dynamisch angepaßte Kantenbewertungen berücksichtigen. Dies könnte beispielsweise anhand von Zeitfenstern geschehen: Jede Kante kann in jedem Zeitfenster unterschiedlich bewertet werden. Innerhalb der einzelnen Zeitfenster ist die Bewertung jedoch wieder konstant.

Durch Zeitfenster läßt sich auch die Verfügbarkeit von Kanten zeitlich einschränken. So lassen sich etwa Nachtfahrverbote oder zeitweilige Einbahnregelungen berücksichtigen.

Oftmals sind Aufwendungen innerhalb von Knoten ebenfalls zu betrachten, z.B. für Abbiegevorgänge oder für das Durchqueren großer Kreuzungen. Eine Möglichkeit besteht darin, solche Knoten wiederum als Netz (sprich: als Graph) zu betrachten. Die Modellierung solcher hierarchischer Graphensysteme behandelt u.a. ROSE (1996) B.

1.1.2 Fahrplanverkehr

Im fahrplangebundenen Verkehr hat man es im Gegensatz zum Individualverkehr nicht mit kontinuierlichen Verkehrsströmen sondern mit diskreten Verkehrsereignissen zu tun. Zu ganz bestimmten, im Fahrplan festgelegten Zeiten passieren Fahrzeuge die betrachteten Kanten. Da ein- und dieselbe Kante von unterschiedlich schnellen Verkehrsmitteln benutzt werden kann (bei der Bahn beispielsweise vom StadtExpress und vom EuroCity), können die Bewertungen einer Kante für die darauf stattfindenden Verkehrsereignisse völlig unterschiedlich ausfallen.

Dies gilt auch für andere Bewertungskriterien als dem der Zeit: Unterschiedliche Tarife für unterschiedliche Verkehrsmittelkategorien auf derselben Strecke sind eher der Normalfall als die Ausnahme. Lediglich die räumlichen Entfernungen bleiben konstant. Diese spielen aber bei der Wegewahl allgemein, erst recht aber bei der Wegewahl in öffentlichen Verkehrssystemen, eine eher unbedeutende Rolle.

Im Gegensatz zu individuellen Verkehrsmitteln stehen Kanten nur zu fest vorgegebenen Zeiten in Form von Teilverbindungen zur Verfügung. Dies können entweder unregelmäßige oder vertaktete Zeiten sein. Die Anzahl der Teilverbindungen pro Tag kann hierbei sehr unterschiedlich ausfallen, von einigen wenigen werktäglichen Teilverbindungen auf Regionalstrecken bis zum Zwei-Minuten-Takt während der Stoßzeit im Schnellverkehr von Ballungsräumen.

Aus dieser Tatsache heraus ergibt sich ein weiteres Problem: das der Anschlüsse. Durch die zeitdiskrete Verfügbarkeit aller Kanten ergeben sich bei den Übergängen von einer Kante zur nächsten zwangsläufig Wartezeiten, die in die zeitliche Gesamtbewertung eines Weges einfließen müssen. Sofern in einem Knoten ein echter Umsteigevorgang stattfindet, muß aber auch, je nach räumlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen des Fahrgastes, eine mehr oder minder große Pufferzeit eingehalten werden.

Im Gegensatz zur reinen Wegesuche beim Individualverkehr hat man es beim Fahrplanverkehr meist mit der Suche nach einer bestimmten Verbindung zu tun. Diese bedient sich zwar auch eines Weges, eine Verbindung besteht aber aus ganz bestimmten Teilverbindungen, die auf den Kanten dieses Weges verkehren.

1.2 Probleme der schnellsten Verbindung

Oberflächlich betrachtet, ist das naheliegendste Kriterium für eine Verbindungssuche die Reisezeit. Die Suche einer Verbindung nach diesem Kriterium wird mittlerweile von allen gängigen Fahrplanauskunfssystemen in T-Online, Internet, CD-ROM und an Infoterminals unterstützt. Genauer gesagt: Hier liegt der Schwerpunkt der derzeitigen Systeme. Diese Einschränkung auf eine optimale Reisezeit ohne Berücksichtigung anderer Faktoren wie Fahrtkosten, Umsteigehäufigkeit oder die Vorhaltung von Zeitreserven an Umsteigeknoten kann zu recht unbefriedigenden und auch sehr teuren Ergebnissen führen. Dies soll an einigen Beispielen gezeigt werden.

1.2.1 Beispiel: Schnell, aber teuer

Dieses Beispiel wurde mit Hilfe der Internet-Fahrplanauskunft der Deutschen Bahn erarbeitet. Für den 20. Oktober sollte eine Zugverbindung nach folgenden Kriterien gesucht werden: Abfahrt morgens in München, Ankunft etwa 14:00 Uhr in Berlin. Hier ergeben sich folgende Möglichkeiten:
 
IC 806 
ab München Hbf 6:52, an Berlin Zoo 14:19 

674 km 
7:27 Stunden 
DM 170.-/85.- zzgl. IC-Zuschlag (DM 6.-)

ICE 682 
ab München Hbf 7:14, an Göttingen 10:56 
ICE 694 
ab Göttingen 11:05, an Berlin Zoo 14:01 

944 km 
6:47 Stunden 
DM 250.-/125,-

Teuer erkaufte Zeitersparnis

Die Preisangaben beziehen sich auf eine einfache Fahrt im Normaltarif bzw. mit Bahncard (50% Ermäßigung).
 
Wie deutlich zu erkennen ist, würde eine nur auf Geschwindigkeit hin optimierte Verbindungssuche in jedem Falle die ICE-Verbindung mit Umsteigen in Göttingen vorschlagen. Da diese Verbindung sowohl eine spätere Abfahrts- als auch eine frühere Ankunftszeit hat, spielt es dabei auch keine Rolle, ob für die Suche die früheste gewünschte Abfahrtszeit oder aber die späteste gewünschte Ankunftszeit angegeben wurde.

Diese Verbindung ist zwar um 40 Minuten schneller, dieser Zeitvorteil gegenüber der IC-Direktverbindung wird aber mit einigen Nachteilen erkauft:

Vermutlich wären viele Reisende nicht bereit, für einen Fahrzeitgewinn von knapp 11% einen Preisaufschlag von 40% sowie das Risiko und den Nervenkitzel des knappen Anschlusses hinzunehmen.

1.2.2 Beispiel: Annähernd gleichwertige Alternativen

Dieses Beispiel beruht ebenfalls auf einer Strecke der Deutschen Bahn. Wiederum sollte für den 20. Oktober eine Bahnverbindung gefunden werden, diesmal von München nach Giengen an der Brenz, gewünschte Ankunft gegen 13:00 Uhr. Zwei fast gleichwertige Möglichkeiten existieren in diesem Fall: Die Preisangaben beziehen sich wieder auf eine einfache Fahrt im Normaltarif bzw. mit Bahncard (50% Ermäßigung).

Auch in diesem Falle würde bei einer reinen Fahrzeitoptimierung einer bestimmten Verbindung absolut der Vorzug gegeben, nämlich der mit dem EuroCity.

Entfernungsunterschiede gibt es in diesem Fall nicht, da jedesmal dieselben Strecken benutzt werden. Der Fahrzeitunterschied ist mit nur fünf Minuten in der Praxis meist vernachlässigbar. Im Normaltarif ist die ICE-Fahrt um knapp 10% (DM 5.-) teurer, mit Bahncard aber sogar um 30 Pfennig billiger.

Aufgrund dieser geringen Unterschiede könnten andere Gesichtspunkte zur Variantenwahl herangezogen werden. Folgende Gründe könnten die Wahl zugunsten des ICE beeinflussen:

Die Variante mit dem ICE wird vielen Reisenden allerdings verborgen bleiben. Von der Fahrplanauskunft wird sie erst dann vorgeschlagen, wenn die Verwendung von EuroCity- und InterCity-Zügen explizit unterbunden wird.

1.2.3 Beispiel Anbindungen vom Stadtverkehr zum Regional- und Fernverkehr

Dieses Beispiel wurde mit der kombinierten Fahrplanplanauskunft für Nah- und Fernverkehr des Bayerninfo-Projektes erstellt, wiederum für den 20. Oktober. Gesucht wurden Verbindungen am Vormittag vom Münchner U-Bahnhof Machtlfinger Straße zum Salzburger Hauptbahnhof. Mehrere ähnliche Verbindungen wurden gefunden, davon wurde folgende exemplarisch ausgewählt:
 
08:13 
08:27 
ab Machtlfinger Straße 
an Marienplatz 
U-Bahn U3 
Richtung Olympiazentrum 
08:31 
08:37 
ab Marienplatz 
an Ostbahnhof München 
S-Bahn S4 
Richtung Ostbahnhof München 
08:41 
10:28 
ab Ostbahnhof München 
an Salzburg Hauptbahnhof 
RE 3507 
Richtung Salzburg Hauptbahnhof 
Knapper Anschluß

Bereits die Umsteigezeit von der U3 zur S4 erscheint relativ knapp. Durch die sehr hohe Zugfolge der S-Bahn auf dem benutzten Streckenabschnitt fällt dies aber nicht ins Gewicht.
Das eigentliche und besondere Problem dieses Verbindungsvorschlages liegt in seinem Übergang von den innerstädtischen Verkehrsmitteln mit seinen hohen Taktfrequenzen (in diesem Fall U- und S-Bahn) zum Regional- und Fernverkehr der Bahn. Auch wenn auf dem Münchner Ostbahnhof nicht besonders weit von der S-Bahn zu den Fernverkehrsgleisen ist, erscheinen vier Minuten Spielraum zum Umsteigen doch sehr knapp. Sollte der RegionalExpress nach Salzburg verpaßt werden, so bedeutet dies für den Fahrgast eine Stunde Wartezeit bis zur nächsten Fahrtmöglichkeit.

Angesichts der dichten Zugfolgen bei den Zubringerverkehrsmitteln wird der Fahrgast in der Praxis wohl einige Taktperioden früher an der Machtlfinger Straße losfahren. Die eingeplanten Umsteigereserven wird man also üblicherweise immer dann höher bemessen, wenn im Falle eines verpaßten Anschlusses eine längere Wartezeit bis zur darauffolgenden Fahrtmöglichkeit droht.