Die vermeintlich billige Lösung

Eine weitere erhebliche Verkehrsverlagerung zu Lasten der Station Walpertskirchen bewirkte die Haltestelle Thann-Lengdorf, die am 20. Juni 1887 sechs Kilometer östlich in Betrieb gegangen war. 13 Jahre später sollte diese Haltestelle zur Abzweigstation werden, nachdem das Projekt einer Lokalbahn zum Anschluss der beiden Marktgemeinden Isen und Haag (Obb.) an das Schienennetz realisiert worden war. Zwar erwogen die Kgl.Bay.Sts.B. bei ihren Planungen auch, die Stichstrecke in der näher Richtung München gelegenen Station Walpertskirchen an die Hauptbahn anzuschließen. Da sich hierbei die Streckenlänge um ca. 3,75 km verlängert hätte ohne ein "lohnendes" Gebiet zu erschließen, wurde davon Abstand genommen.

Flurkarte von 1950

Die Haltestelle Thann-Lengdorf war aus einem Schrankenposten hervorgegangen.
Aufnahme 1898. Foto: Joseph Eixenberger, Sammlung des Verfassers

Flurkarte von 1950

Die Bahnstrecke München - Mühldorf (1), die realisierte Lokalbahntrasse nach Lengdorf/Isen/Haag (2) und die verworfene Alternative (3)

Die neue Abzweigstation - sie hatte mit der Inbetriebnahme der Haager Lokalbahn am 27. September 1900 den Namen Thann-Matzbach erhalten - war nur mit den allernotwendigsten Gleisanlagen ausgestattet worden. Da diese in der Streckenneigung von 1 : 200 lagen, war das Rangieren in der Abzweigstation verboten. Für den Übergang von Güterwagen der Lokalbahn auf die Hauptbahn und umgekehrt mussten deshalb so genannte Rangirzüge nach Walpertskirchen eingerichtet werden. Für diese "Rangirzüge", die jeden Werktag zweimal, bis 18. März 1901 bei Bedarf dreimal verkehrten, war in Walpertskirchen ein Aufstellgleis erforderlich, das im östlichen Teil der Station mit einer Nutzlänge von 100 m eingebaut wurde. Bereits 10 Jahre später sollte sich diese Investition als überflüssig herausstellen, nachdem die Anlagen des Bahnhofs Thann-Matzbach mit großem Aufwand angepasst und erweitert worden waren, so dass nun dort der Güterwagenaustausch vorgenommen werden konnte. Vorher (1906/07) ließen jedoch die Kgl.Bay.Sts.B. die Station Thann-Matzbach noch mit einem Ausweichgleis ausrüsten. Zwei Jahre später wurde es, ebenso wie das durchgehende Hauptgleis und die übrigen Gleise, mit einer verringerten Neigung von 1 : 400 neu trassiert, um das Rangieren zu ermöglichen und damit die Kosten der bislang sehr aufwändigen Güterverkehrsabwicklung zu senken. Diese Neutrassierung erforderte einen Kostenaufwand von rund 105.000 Mark.

Flurkarte von 1950

Die bescheidenen Anlagen der Station Thann-Matzbach konnten nach der Inbetriebnahme der Haager Lokalbahn dem Verkehrsumfang nicht mehr genügen. 1903 musste das kleine Betriebsgebäude dem seither bestehenden weichen, das sehr großzügig ausfiel und entgegen der bisher üblichen Backsteinbauweise einen Mörtelputz erhalten hatte. Am 28. November 1981 präsentiert sich das stattliche Thann-Matzbacher Bahnhofsgebäude noch weitgehend in seiner ursprüglichen Fassade. Der Stellwerksvorbau und das Vordach wurden 1958 hinzugefügt.

Die vermeintlich billige Lösung, die Haager Lokalbahn in der Haltestelle Thann-Lengdorf statt im vorhandenen Bahnhof Walpertskirchen abzweigen zu lassen, erwies sich letztlich als die teurere, wie die folgende überschlägige Rechnung zeigt *):

Maßnahme Kostenaufwand
Erweiterung der Station Thann-Lengdorf zur Abzweigstation 1900: rd. 2.000 Mark
Einbau des Aufstellgleises in der Station Walpertskirchen 1900: rd. 1.900 Mark
Baukosten des neuen, für die Abzweigstation Thann-Matzbach erforderliche Betriebshauptgebäudes einschließlich Nebengebäude 1903/04: rd. 62.300 Mark
Einbau des Ausweichgleises in der Station Thann-Matzbach 1906/07: rd. 2.300 Mark
Neutrassierung der Thann-Matzbacher Gleisanlagen 1908/09: rd. 105.000 Mark
Kosten der "Rangirzüge" 1900 - 1910 (rd. 4.900 Mark/Jahr) einschl. der zusätzlichen Bedarfsfahrten Okt. 1900 - März 1901: rd. 50.000 Mark
Summe: rd. 223.500 Mark
dagegen:
Kosten für ca. 3,75 km Mehrlänge der Lokalbahn, wenn diese in der Station Walpertskirchen angeschlossen worden wäre, einschließlich deren Anpassung (s. nebenstehende Skizze)
rd. 215.000 Mark

Zum Vergleich: Das Jahresgehalt eines Lokomotivführers betrug damals mit allen Zulagen rund 1.500 Mark.

*) Zahlenmaterial aus: